01 Eisvogel
Die wichtigsten Erinnerungen, so stelle ich mir das jedenfalls vor, ruhen in seidig ausgeschlagenen Schatullen. In einer der ältesten sitzt ein kleiner Vogel mit kurzen Schwanzfedern und blauschillerndem Gefieder. Er beobachtet aus der Höhe einer Trauerweide die jungen Bachforellen im Teich. Er ist unverwechselbar. Kein anderer Vogel gleicht ihm.
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In einem viel jüngeren Schatüllchen heizt die Nachmittagssonne Indiens auf ein windschiefes Palmwedeldach. Zwei Blechtische, die Füße im Sand. Wir trinken Kingfisher Bier und essen das scheußlichste Fischcurry Karnatakas. Es besteht aus den Gräten sehr kleiner Fische und einer verdächtig muffigen Sauce. Doch die Landschaft rundum ist wunderbar, voller Farben, Klänge und Düfte. Kein Mensch da, bis auf den Curry-Koch, einen schlafenden schwarzen Hund und ein paar Hühner. Hinter uns schwappt ein träges Meer an den Sandstrand der Landzunge. Auf der anderen Seite versperrt ein Mangrovensumpf den Weg in das dschungelige Hinterland. Hohe Palmen über grünem Dickicht.
Den Fisch hat er sicher da drüben gefangen, sage ich. In Reusen im Brackwasser. Nicht im Meer. Zu teuer, zu aufwendig. Aber für den Sumpf und seine Netze wird er zumindest einen kleinen Kahn haben. Ja, hat er, und den borgen wir uns aus. Wir paddeln über schwarzes Wasser und werden taumelig vom Wirrwarr der Mangrovenwurzeln. Wie vielbeinige Spinnen stehen sie im Wasser. Wir scheuchen Schwärme weißer Vögel auf, lassen uns durch die Kanäle treiben, versuchen lautlose Beobachter zu sein in einer Welt aus Wasser, Pflanzen und unbekannten Tieren.
An trockenen Stellen wachsen auch höhere Bäume. Ich kenne ihre Namen nicht. Doch auf einem Ast sitzt ein alter Bekannter. Ein kleiner Vogel mit kurzen Schwanzfedern und blauschillerndem Gefieder. Gibt es ja nicht, denke ich, aber es ist tatsächlich ein Eisvogel, genau so einer wie daheim am Forellenteich. Er hält nach unvorsichtigen jungen Fischen Ausschau, die sich zu weit aus dem Schutz der Mangrovenwurzeln ins freie Wasser wagen. Drei Viertel aller tropischen Fische werden im Mangrovenwald geboren, die verfilzte Unterwasserwurzelwelt ist ihr Schutz und ihre Kinderstube.
Der Vogel sitzt unbewegt, beäugt das Wasser. Dann ein blauschillernder Pfeil, ein Eintauchen und ein Auftauchen, ein Zappeln im Schnabel. Der Eisvogel schlägt den Fisch ein paar Mal gegen den Ast, bis er tot ist. Dann frisst er ihn. Ein Déjà-vu.
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In der viel älteren Erinnerung bin ich ungefähr vier Jahre alt. Ich sitze neben meinem Großvater am Ufer eines seiner verwunschenen Forellenteiche. Eigentlich sollte ich im Kindergarten sein. Aber ich gewinne fast immer, und dann darf ich Forellen füttern, nach reifen Himbeeren suchen und neben meinem Großvater unter dem Dach alter Trauerweiden am Teich sitzen. Alles grün und spiegelglitzernd. Die Bank ist aus Brettern gezimmert, es ist noch die Zeit, in der alles verwertet, nichts weggeworfen wird, und meinem Großvater traue ich zu, aus nichts alles zu machen.
Ich bin ein kleines Tier, er ist ein großes Tier. Er ist alt und allmächtig, weil er alles kann und alles weiß. Wir sind die größeren Kreaturen unter den vielen kleineren, den Erdwespen, den Forellen, den Teichfröschen, den Maulwurfsgrillen. Er ist mit allen auf Du und Du, und in den Monaten und Jahren des Kindergarten-Schwänzens am Teich, am Bach, im Wald stellt er sie mir vor. Er bringt mir bei, wie man Rehböcke durch Fiepen mit zusammengepressten Lippen auf ein paar Meter anlockt, welche Beeren des Waldes ich essen kann und wo die scharfwürzige Brunnenkresse wächst.
Schau, sagt er. Ein Eisvogel. Und er ist auf der Jagd. Wir sitzen still und beobachten. Ein blauschillernder Pfeil, ein Eintauchen, ein Zappeln im Schnabel. Wieder ein Fisch weniger. Aber es sind die 1970er. Noch ist genug da für uns alle.
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Links
Wie viele ganz unterschiedliche Arten von Eisvögeln weltweit auf unberührte Bäche und Gewässer angewiesen sind, erklärt The wonderful World of Kingfishers. Schauen und Staunen!
Was wäre ich ohne meine kleinen Freunde?
Ohne Hummeln, Pelzbienen und Bachforellen, ohne Kreuzspinnen, Igel, Rotkehlchen, Bussarde?
Das ist die Frage, und das Projekt das_kleine_leben sucht die Antwort. Ein Jahr lang und darüber hinaus.