06 Mäuse
Klackern und Rollen am Dachboden
Wenn ich in ein frisch überzogenes Bett steige und einen bestimmten Waschmittelgeruch rieche, falle ich wie durch ein Mauseloch in die Vergangenheit. Dort liege ich unter einer voluminösen Tuchent, bis zur Nase eingemummelt wie ein kleines Tier.
In der Dachkammer ist es immer kalt. Es gibt lindgrün gestrichene Wände mit silbrig draufgewalzten Mustern, aber keine Heizung. In der Früh kann man den Atem sehen, und in eisigen Nächten bilden sich bis zum Morgen Reifkristalle auf der duftenden Tuchent. Solange man darunterbleibt, spielt das keine Rolle, das Federbett ist mollig warm und wahrscheinlich schwerer als ich.
Gleich nebenan tut sich hinter einer verzogenen Blechtüre die Höhle des Dachbodens auf. Spinnweben in unerreichbaren Balkenhöhen, staubige Labyrinthe aus Bilderrahmen, alten Fenstern, Dachziegeln. Eine geteerte Truhe wie aus der „Schatzinsel“, unversperrt und ohne Gold, dafür gefüllt mit Malerwalzen, Schablonen und steinhart gewordenen Pinseln. Es gibt auch freie Flächen, und auf einer ist ein großes Stück Linoleum aufgebreitet – für die im Herbst aufgeklaubten Nüsse. Die sollen dort trocknen, und beim Einschlafen hören wir sie klackern und rollen, wenn die Mäuse damit spielen und daran naschen.
Rascheln, Trippeln, Huschen überall
Immer sind überall Mäuse, vor allem ab Herbst. In der Wohnung sind die Mäuse die Gelsen des Winters, und alte Häuser sind ihre Winterpaläste. Über ungezählte Mausgenerationen hinweg haben sie dort Zeit gehabt, Löcher in Lamperien und Fußbodenleisten zu nagen, Mauern zu durchhöhlen und die Zwischendecken zu erobern. Wenn die Großmutter am Abend unten in der Stube neben dem Meller über dem Häkelzeug einschläft, sind wir sehr leise, um sie nicht aufzuwecken. So lange sie eingenickt ist, werden wir nicht ins Bett geschickt, und unweigerlich beginnt es irgendwann, irgendwo zu rascheln, zu trippeln und schon huscht eine Maus die Wand entlang.
Bei den Erwachsenen sind sie nicht sonderlich beliebt, manche, wie die dicke, ansonsten wenig behände Urgroßtante, springen auf die Polstermöbel, wenn eine von ihnen auftaucht. Für uns völlig unverständlich. Wir fangen sie auf der Wiese mit bloßen Händen, sie beißen zwar, und manchmal bleibt eine am Finger hängen, aber nie lang. Wir setzen sie für eine Weile in ein ausgedientes, mit Erde gefülltes Aquarium und betrachten die Gänge, die die armen Gefangenen graben, bevor sie wieder ausgelassen werden.
Wer auf dem Land und in einem alten Haus lebt, kann unzählige Mäusegeschichten erzählen. Zum Beispiel, dass in einem Hendlstall niemals eine Maus überlebt, weil Hühner die Nachfahren der Raptoren und gute Jäger sind. Oder dass es Mäuse gibt, die aus unerfindlichen Gründen niemals in die Falle gehen, so wie der Mausbär, mit dem ich drei Monate lang zusammenlebte, trotz eines Dutzends Fallen, die er alle mied, dafür aber das Sofa zernagte, bis ich ihm endlich auflauern und ihn einfangen konnte. Mit einem Tuch und beherzter Schnelligkeit geht das übrigens am besten. Mit dieser Technik kann man auch angeben, wenn man irgendwo zu Gast ist und Mäuserascheln hört. Seid still, gebt mir ein Tuch und ein bisschen Zeit – und die Sache wird erledigt, die Maus rausgeworfen.
Zwergmaus oder Gelbhalsmaus?
Erst letzten Herbst fing ich bei mir daheim die hübscheste Maus meiner Mäusefangkarriere. Sie war winzig und entzückend, nicht grau wie die Hausmaus, sondern haselnussbraun, das Bäuchlein schneeweiß. Letzteres deutet darauf hin, dass es sich um eine Zwergmaus gehandelt haben könnte, oder um eine noch nicht ausgewachsene Gelbhalsmaus, so winzig wie sie war. Sie ließ sich auch leicht fangen und entlassen in die Wildnis.
Dort leben Mäuse, von denen die meisten von uns noch nie gehört haben. Birkenmäuse, Waldmäuse, Erdmäuse, Schneemäuse, Rötelmäuse, Brandmäuse, Kurzohrmäuse, Schermäuse, Wald-, Wasser-, Sumpf- und Zwergspitzmäuse. Alle in ihrem jeweiligen Habitat, und teils bereits gefährdet, weil wir ihnen die Lebensgrundlagen wegbaggern, wegbetonieren und wegregulieren. Auch das weiß oder beachtet kaum jemand.
Ohne Mäuse keine Eulen, keine Füchse, keine Hummelnistplätze:
* Sie sind eine wichtige Nahrungsgrundlage für Eulen, Füchse, Marder, Mauswiesel, Schlangen und viele andere Tiere.
* Sie durchwühlen, lockern und verbessern den Boden.
* Ihre Baue dienen anderen Tieren als Kleinstlebensräume, wie etwa Hummeln, die darin gern ihre Nester bauen.
* Sie vertragen Sämereien und betätigen sich solchermaßen als Gärtner in Wäldern und Wiesen.
* Sie vertilgen problematische Arten, wie im Falle der Waldspitzmaus den Borkenkäfer.
Mastjahre sind Mäusejahre sind Eulenjahre sind ...
Wenn es saisonal üppig zugeht in der Natur, wenn etwa Waldbäume besonders große Mengen an Samen produzieren (Bucheckern, Eicheln usw.), dann steigen auch die Mäusepopulationen.
Daraus folgt ein vermehrter Nachwuchs bei Mäusefressern, etwa bei Greifvögeln wie Eulen, Falken, Mäusebussarden, allen Wieselarten, Iltissen, Mardern, Füchsen.
2019 gab es beispielsweise im Weinviertel eine regelrechte Mäuseplage, die jedoch den Zuzug von über 100 Brutpaaren der hierzulande sehr seltenen Sumpfohreule zur Folge hatte, wie die Eulen- und Greifvogelstation Haringsee berichtete.
Alles steht mit allem in Zusammenhang.
Diese akrobatische kleine Maus wurde zum Superstar der BBC-Dokumentationsreihe "Planet Earth"
"Climbing grass is harder than climbing trees, not least because their stems will just not stay still,” explains Sir David Attenborough as he tells the mouse’s story.
“A prehensile tail acts like a fifth limb, so she’s as agile as a monkey travelling around in a tree. And just as well, the best food in this tiny ‘forest’ is at the very top of the canopy,” adds Sir David as the mouse climbs on to a knapweed flower.
Was wäre ich ohne meine kleinen Freunde?
Ohne Hummeln, Pelzbienen und Bachforellen, ohne Kreuzspinnen, Igel, Rotkehlchen, Bussarde?
Das ist die Frage, und das Projekt das_kleine_leben sucht die Antwort. Ein Jahr lang und darüber hinaus.