05 Pirol
Frühsommer. Es ist die Zeit der Glühwürmchen, der warmen Nächte und der frühen Morgen. Alle Fenster stehen offen, der Duft von taunasser Wiese und von Bauernjasmin weht herein. Es ist noch stockfinster, aber ich brauche kein Licht. Ich weiß auch so, wie spät es ist. Ein Rotschwänzchen hat gerade zu singen begonnen, also dauert es noch eine gute Stunde bis die Sonne aufgeht – die Blaue Stunde des Morgens beginnt, die Welt gehört für Momente den Wenigen, die jetzt schon wach sind.
Dem Rotschwänzchengesang folgt bald das Gezwitscher der Rotkehlchen, dann stimmen die Amseln ein, noch später wird das Taubenpärchen in der alten Eibe zu gurren beginnen. In der letzten Viertelstunde, kurz bevor die Sonne aufgeht, werden auch die Langschläfer aufwachen, der Stieglitz, der Grünfink und die Stare.
Aber dafür ist es zu früh, und an diesem Morgen klingt noch etwas anderes durch die nachtblaue Luft, ein lange nicht gehörter, melancholischer Ruf. Erst glaube ich, mich verhört zu haben, aber da ist es wieder: Das charakteristische Flöten, diese eigenartige, unbeschreibliche Tonfolge, die mich sofort aufspringen und in den Garten eilen lässt, das Gras kalt und nass unter den Füßen. Auf dem Weg zum Wäldchen taucht aus dem Schatten eine Gestalt in weiß-blauen Pyjamastreifen auf. Mein Bruder. Er hat ihn auch gehört.
„Pirol!“, flüstere ich. „Wo ist er?!“, flüstert er zurück. Irgendwo oben im Wäldchen. Wir folgen dem Gesang, aber den Vogel sehen wir nicht. Er wird auch nicht bleiben. Er wird nach ein paar Tagen weiterziehen an Orte, wo sich auch andere goldene Vögel in hohen Baumwipfeln verstecken. Denn hohe Bäume will der Pirol, am liebsten in der Nähe von Gewässern.
Aber er war da, immerhin, erstmals seit vielen Jahren, als ich ihn in der Fichte hörte und auch ganz genau sah. Vielleicht, weil ich noch so klein war, oder weil ich mich als Kind besser anschleichen konnte? Vielleicht kommt er in einem der nächsten frühen Sommer wieder, am besten zu zweit, was weiß man, und dann wird er sein Nest flechten, ganz oben in einer Astgabel, und kleine Pirole werden schlüpfen. Meine Traumvögel mit dem Gesang wie aus einer anderen Zeit, in der man froh und traurig zugleich sein kann, wenn die Morgen still und menschenleer sind.
Einer, der dem bittersüßen Gesang ebenso verfallen ist.
Einer, der dem Pirol ein Leben lang mit der Kamera nachjagt.
Und ein Pirol-Nestblick von BirdLife Schweiz.
Was wäre ich ohne meine kleinen Freunde?
Ohne Hummeln, Pelzbienen und Bachforellen, ohne Kreuzspinnen, Igel, Rotkehlchen, Bussarde?
Das ist die Frage, und das Projekt das_kleine_leben sucht die Antwort. Ein Jahr lang und darüber hinaus.