13.12.2023

02 Ameisenbläuling

Was ein kleiner Schmetterling – seidig blau wie ein Bergsee an einem Sommernachmittag – mit Vladimir Nabokov, Arthur Schopenhauers Lieblingslektüre und einer fast in Vergessenheit geratenen indischen Gottheit zu tun hat.

Nabokov

Zwei Dutzend kleiner Schmetterlinge, alle von einer Sorte, hatten sich auf einem feuchten Sandfleck niedergelassen, die Flügel aufrecht und geschlossen, sodass ihre bleichen Unterseiten mit dunklen Punkten und winzigen, orange gesäumten Pfauenflecken entlang der hinteren Flügelränder zu sehen waren; einer von Pnins abgelegten Gummischuhen störte einige von ihnen auf, sodass sie die Himmelfarbe ihrer Oberseiten zeigten und wie blaue Schneeflocken umherstöberten, bis sie sich von neuem niederließen. „Schade, dass Wladimir Wladimirowitsch nicht da ist“, bemerkte Chateau. „Er hätte uns alles über diese bezaubernden Insekten erzählt.“
Vladimir Nabokov, Pnin (1955)

Ach, Chateau. Wie irrt er sich! Wladimir Wladimirowitsch ist doch längst hier. Allerdings befindet er sich in einer anderen Dimension. Er betrachtet die Szene aus einem Guckloch. Denn er, der Schmetterlingsforscher unter den Schriftstellern, Wladimir Wladimirowitsch Nabokov hochselbst, erzählt die Geschichte. Er steht unsichtbar neben Pnin und Chateau und lässt mit bewundernswert wenigen Worten  bezaubernde Bläulinge umherstöbern wie blaue Schneeflocken.

Herrlich erzählt und so raffiniert: Pnin ist legendär für unendlich viele Querbezüge. Alles ist mit allem verknüpft in diesem Roman, auf profane oder magische Weise. Das Eichhörnchen, die Schmetterlinge, selbst Glasschüsseln werden zu Metaphern, wie ein feines Netzgespinst hängt alles zusammen, und zupft Nabokov, der Autor, an einem Fädlein, so bewegt sich das gesamte Gebilde.

Für die Lycaenidae, die komplizierte Familie der Bläulinge, hegte Nabokov eine spezielle Zuneigung. Wladimir Wladimirowitsch hätte uns an dieser Stelle viel über einen ganz speziellen dieser hübschen Tagfalter erzählen können, den Wiesenknopf-Ameisenbläuling. Aber er ist leider nicht da, also müssen Sie mit mir vorlieb nehmen.

Wiesenknopf-Ameisenbläuling

Er ist ein kleiner Falter, den man hierzulande  von Juli bis August fliegen sieht, doch das nur, wenn er sich kurz zuvor in einem wichtigen Moment seines Daseins sehr beeilt hat. Wenn dieser Moment gekommen ist, hat er seine Leben fast schon hinter sich, doch eine einzige wichtige Aufgabe muss er noch erledigen, er muss sich fortpflanzen und tun, was seine Mutter irgendwann zwischen Juni und August des Vorjahres getan hat: Sie hat ihn auf der Blütenknospe eines Dunklen Wiesenknopfs in Form eines Eis zurückgelassen.

Ab dann ist er ganz allein. Sobald er schlüpft, frisst er sich als winzige Raupe in das Innere der Knospe vor und bringt sich dort in Sicherheit. Eine Weile delektiert er sich an dieser herrlichen Speisekammer, und weil der Wiesenknopf dunkelviolett blüht, färbt sich das Räupchen von Cremegelb zu Rosa und schließlich Purpurrot.

Dann lässt es sich fallen, sucht sich in der Nähe ein geschütztes Plätzchen und beginnt zu duften. Nach Honig und noch etwas anderem, das zumindest die Rotgelben Knotenameisen als Duft empfinden und so betört, sodass sie die nur drei Millimeter kleine Raupe nicht auf der Stelle auffressen, sondern in ihren Bau schleppen. Das Räupchen ist, man ahnt es, ein Trojanisches Pferd. Denn obwohl es die Ameisen mit süßem Sekret besticht, frisst es sich im Laufe der kommenden Monate bis in den Frühling hinein an bis zu 600 Ameisenlarven fett und satt. Nach einem, mitunter sogar zwei im Bau verbrachten Wintern verpuppt es sich.

Zwischen Juni und August schlüpft schließlich mitten im Ameisennest der Falter, und jetzt muss er sich sputen. Denn mit der Verwandlung hat er auch den Duft verloren, und wenn er nicht in Windeseile aus dem Bau kriecht, ist es aus mit ihm.

Er hat jetzt hübsch geringelte Fühler und Pünktchen in den blauschillernden Flügeln. Doch das Blaue zeigt er nur im Flug. Sobald er auf einem Halm, einer Blüte Platz genommen und das Gleichgewicht gefunden hat klappt er die Flügel ohne Zeit zu verlieren zusammen und tarnt sich mit unscheinbaren braunen Flügelunterseiten.

Er wird jetzt nur noch ein paar Tage, bestenfalls Wochen leben, und deshalb hält er rasch nach einem Partner Ausschau, und nach der Pflanze, die sein gesamtes Leben bedeutet. Der Große Wiesenknopf ist nicht nur die einzige Kinderstube des Ameisenbläulings, er ist auch die bevorzugte Nektar-Nahrungsquelle der erwachsenen Falter.

Eine zu früh und zu ungünstiger Zeit gemähte Wiese vernichtet eine gesamte Bläulingsgeneration.
Ohne Wiesenknopf und ohne Ameisen kann der Falter nicht existieren.
So fein sind die Zusammenhänge in der Natur.

Keine feuchten Wiesen, kein Wiesenknopf, keine Ameisen, kein Schmetterling.
Eigentlich ist es recht einfach.

Schopenhauer & Das Netz des Indra

Die indische Philosophie, von der Arthur Schopenhauer behauptete, sie sei die belohnendeste und erhebendeste Lektüre, die auf der Welt möglich ist, steckt voller Metaphern. Eine davon ist das Netz des Indra – des Königs der Himmel und Gottes des Regens. In der altvedischen Zeit stand er für die gesamte Schöpfung. Seine Elter waren der Himmel und die Erde, seine Brüder Agni, das Feuer, und Vayu, der Wind. Indras Bogen war der Regenbogen, und ausgehend von seinem Palast spannte er über die Welt ein Netz, das alles mit allem verbindet: Indras Netz.

In den Knoten des unendlich gesponnenen Netzes funkeln geschliffene Juwelen. Jedes davon spiegelt alle anderen tausendfach wider. Zupft man an einem Fädchen, geht ein Spiegeln und Widerspiegeln durch das gesamte System.

Im Avatamsaka Sutra = Blumengirlanden-Sutra, vor etwa 2.000 Jahren erstmals in Sanskrit niedergeschrieben, heißt es:

Die Buddhas erkennen mit ihrer Weisheit, dass der ganze Kosmos der Seienden ohne Ausnahme so wie das große Netz im Indra-Palaste ist, so dass alle Seienden wie die Edelsteine an jedem Knoten des Indra-Netzes untereinander unendlich und unerschöpflich ihre Bilder und die Bilder der Bilder in sich spiegeln.

Schopenhauer zählte nicht gerade zu den romantischen Esoterikern unter den Philosophen, und deshalb kann man sich herrlich auf ihn berufen, wenn man Skeptikern die Bilder und Metaphern der sechs philosophischen Schulen Indiens schmackhaft machen will. Über die Lektüre der Upanishaden schrieb er in Parerga und Paralipomena: Sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens seyn.

Alles ist mit allem verknüpft. Fehlt ein "Juwel", setzt sich dieser Verlust im gesamten Netz der Biodiversität fort.

Das ist er, der Schöne

Auf das Foto klicken und den Film schauen! Large Blue heißt der Dunkle Wiesenknopf-Ameisenbläuling in Großbritannien. Dort war er bereits ausgestorben, konnte aber wieder angesiedelt werden. Die BBC und David Attenborough berichten.

Der guten Ordnung halber: Es gibt auch einen Hellen Wiesenknopf-Ameisenbläuling und zahllose Schmetterlingsarten, die monophag, also auf eine einzige Pflanze angewiesen sind.

Projekt das_kleine_leben


Was wäre ich ohne meine kleinen Freunde?
Ohne Hummeln, Pelzbienen und Bachforellen, ohne Kreuzspinnen, Igel, Rotkehlchen, Bussarde?
Das ist die Frage, und das Projekt das_kleine_leben sucht die Antwort. Ein Jahr lang und darüber hinaus.